Warum klassische CMS an ihre Grenzen stoßen

WordPress, Typo3, Joomla – sie haben uns weit gebracht. Aber die Anforderungen haben sich geändert.

12 Minuten
Warum klassische CMS an ihre Grenzen stoßen
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Die Welt hat sich verändert

Vor ein paar Jahren reichte eine Website. Texte, Bilder, vielleicht ein Video. WordPress, Joomla oder Typo3 lieferten genau das: Inhalte eingeben, speichern, veröffentlichen. Fertig.

Heute? Heute brauchen Sie dieselben Inhalte in einer App, auf Infodisplays, in einem Newsletter, auf Alexa und vielleicht noch auf einer Smartwatch.

Das klassische CMS sagt: “Hier ist deine HTML-Seite.”
Sie sagen: “Ich brauche strukturierte Daten für fünf verschiedene Plattformen.”
Das klassische CMS sagt: “Das war nicht vorgesehen.”

Drei Szenarien aus der Praxis

Szenario 1: Der Online-Shop mit App

Ein Modehändler betreibt WooCommerce und will eine App. Produktdaten, Preise, Bilder müssen doppelt gepflegt werden – einmal in WordPress, einmal in der App-Datenbank. Jedes Update wird zur manuellen Qual.

Szenario 2: Corporate Website + Infodisplays

Ein Unternehmen will News aus der Website auch auf Displays in den Filialen zeigen. WordPress liefert HTML. Die Display-Software braucht JSON. Lösung: Irgendwer baut ein Scraping-Script, das drei Monate später nicht mehr funktioniert.

Szenario 3: Mehrsprachiger Content überall

Eine Agentur managed Inhalte für Website, iOS-App, Android-App und Alexa-Skill. Vier Systeme, vier Mal dieselben Texte einpflegen, vier Mal übersetzen. Inkonsistenzen sind nicht die Ausnahme – sie sind garantiert.

Das gemeinsame Problem: Klassische CMS liefern fertige Webseiten, keine wiederverwendbaren Daten.

Was Headless anders macht

Ein Headless CMS trennt radikal: Hier die Inhalte (Backend), dort die Darstellung (Frontend). Die Verbindung läuft über eine API.

Klassisches CMS: Kopf + Körper in einem System
Headless CMS: Nur der Körper (Inhalte) – der Kopf (Darstellung) wird frei gewählt

Sie pflegen Ihre Inhalte einmal. Die API liefert sie an jede Plattform, die sie braucht – Website, App, Display, Sprachassistent, PDF-Generator.

Wo klassische CMS wirklich Probleme haben

Sicherheit: Der 43%-Fluch

43% aller Websites weltweit laufen auf WordPress. Das macht WordPress zum Lieblingsziel für Angreifer.

Die Zahlen:

  • 90% der gehackten CMS-Sites sind WordPress (Sucuri, 2023)
  • Durchschnittlich 1,5 kritische Sicherheitslücken pro Monat in den Top-10-Plugins
  • 70% der WordPress-Sites laufen mit veralteten Versionen

Das Problem ist nicht WordPress selbst. Das Problem ist das Ökosystem: Plugins, Themes, Erweiterungen – jede einzelne ist ein potenzielles Einfallstor.

Bei Headless? Das Backend ist oft nicht öffentlich erreichbar. Weniger Angriffsfläche, weniger Stress.

Performance: Die Monolith-Falle

Klassische CMS sind monolithisch. Backend und Frontend laufen auf demselben Server. Hoher Traffic im Frontend belastet das Backend. Komplexe Inhalte verlangsamen alles.

Mit Headless können Sie das Frontend als statische Site oder CDN-cached SPA ausliefern. Das Backend macht sein Ding im Hintergrund. Unabhängig. Skalierbar.

Reale Zahlen (E-Commerce-Vergleich):

MetrikWordPress + WooCommerceHeadless + Next.js
First Contentful Paint2,8s0,4s
Lighthouse Score45-7585-98
Bundle Size890 KB210 KB

Headless ist nicht magisch schneller. Aber es ermöglicht Optimierungen, die mit einem Monolithen schwierig sind.

Multi-Channel: Das eigentliche Problem

WordPress wurde für Websites gebaut. In einer Welt, die Websites, Apps, APIs und IoT braucht.

Das ist keine Kritik an WordPress. Das ist eine Feststellung: Das Tool wurde für einen anderen Job gemacht.

Wann bleibt klassisches CMS die richtige Wahl?

Nicht jedes Projekt braucht Headless. Hier ist die ehrliche Einschätzung:

Klassisches CMS passt, wenn:

  • Eine Website ohne Multi-Channel-Anforderungen reicht
  • Kein technisches Team verfügbar ist
  • Budget unter 5.000€ liegt
  • Schneller Launch wichtiger ist als langfristige Flexibilität
  • WYSIWYG-Editor für Content-Team unverzichtbar ist

Typische Projekte:

  • Handwerker-Website mit Kontaktformular
  • Blog eines Autors
  • Vereins-Website
  • Restaurant mit Speisekarte
  • Portfolio eines Freelancers

Für diese Fälle ist WordPress nicht nur “okay” – es ist oft die beste Wahl. Schnell, günstig, funktioniert.

Wann Headless die richtige Wahl ist

Headless passt, wenn:

  • Multi-Channel geplant ist (Website + App + Display + …)
  • Technisches Team verfügbar ist oder Budget für Agentur (15.000€+)
  • Performance kritisch ist (>50.000 Besucher/Monat erwartet)
  • Internationale Märkte mit vielen Sprachen
  • API-First-Ansatz gewünscht

Typische Projekte:

  • E-Commerce mit iOS/Android-Apps
  • SaaS mit mehreren Frontends
  • Corporate Site mit Displays in 50+ Filialen
  • Publisher mit Website, Apps und Newsletter-Integration
  • Internationale Marke mit 10+ Sprachen

Die Kosten-Realität

Ich will hier niemanden anlügen:

WordPress-Projekt (30 Seiten):

  • Setup: 500-2.000€
  • Hosting: 5-30€/Monat
  • Wartung: 50-200€/Monat (optional)
  • Time-to-Market: Wochen

Headless-Projekt (30 Seiten):

  • Setup: 15.000-50.000€
  • Hosting: 50-500€/Monat
  • Wartung: 500-2.000€/Monat
  • Time-to-Market: Monate

Headless ist teurer. Deutlich. Dafür bekommen Sie Flexibilität, die sich langfristig auszahlen kann – wenn Sie sie brauchen.

Wenn Sie sie nicht brauchen, verbrennen Sie Geld.

Der Hybrid-Weg

Es muss nicht alles oder nichts sein.

Option 1: WordPress als Headless CMS
WordPress hat eine REST API. Mit WPGraphQL können Sie es als Headless Backend nutzen. Ihr Team kennt WordPress, Sie bekommen API-Vorteile.

Option 2: Schrittweise Migration
Starten Sie mit klassischem CMS. Wenn die Anforderungen wachsen, migrieren Sie Stück für Stück. Nicht Big Bang, sondern Evolution.

Option 3: Hybrid-Architektur
Marketing-Content in WordPress (einfach, schnell). Produkt-Daten in Headless (flexibel, skalierbar). Zwei Systeme, beste aus beiden Welten.

Ausblick: Die Serie

In den nächsten Teilen dieser Serie schauen wir uns konkrete Headless-Systeme an:

  1. Strapi – Open-Source-Standard
  2. Directus – API-first mit visuellem Interface
  3. Contentful – SaaS-Marktführer
  4. Storyblok – Headless mit visuellem Editor
  5. Sanity – Flexibles Content-Modeling
  6. Prismic – Slice-basierte Inhalte
  7. Hygraph – GraphQL-native Lösung

Jedes System wird nach demselben Schema bewertet: Herkunft, Technik, Preis, Zielgruppe, Stärken, Schwächen.

Die Entscheidung

Klassische CMS sind nicht schlecht. Sie sind für eine andere Zeit gemacht. Für Websites. Für HTML. Für eine Welt, in der “online” ein Browser bedeutete.

Diese Welt gibt es noch. Viele Projekte brauchen nicht mehr.

Aber wenn Sie Multi-Channel brauchen, wenn Performance kritisch ist, wenn Flexibilität wichtiger ist als Einfachheit – dann ist Headless eine Option, die Sie ernsthaft prüfen sollten.

Die Zukunft des Content Managements ist nicht headless. Die Zukunft ist: das richtige Tool für den richtigen Job.

Manchmal ist das WordPress. Manchmal ist das Strapi. Manchmal ist das etwas, das noch gar nicht existiert.

Die Kunst ist zu wissen, wann was passt.